Gregor A. Mayrhofer

2022 Weltliches Oratorium inspiriert durch die Umweltenzyklika »Laudato si'«

Wir sind Erde

Wir sind Erde - Weltliches Oratorium inspiriert durch die Umweltenzyklika »Laudato si'«
für 4 Solisten, Chor und großes Orchester 

Auftragswerk für die Stiftung kulturelle Erneuerung 

85 Min.

Uraufführung: 13. November 2022
Berliner Philharmonie 

Orchester des Wandels (Musiker:innen der Staatskapelle Berlin)
Chor des Wandels (Sänger:innen des Chores der Staatsoper Berlin, des Berliner Rundfunkchores und des Rias Kammerchores)
Gregor A. Mayrhofer, Leitung 

Libretto
Markus Vogt im Gespräch mit dem Komponisten

Dramaturgie und Textmitarbeit
Juliane Hendes, Matthias Fuchs

Weitere textliche Mitarbeit
Felicitas Magdalena Pfaus, Elisabeth Mayrhofer

Sängerbesetzung 
Hoher Sopran (Humanistin)
Alt (Theistin)
Hoher leichter Tenor (Dataist)
Tiefer Bass (Skeptizist)

Chor SATB 

Orchesterbesetzung 
3 Flöten (2. auch Piccolo, 3. auch Piccolo und Bassflöte)
2 Oboen 
Englisch Horn 
3 Klarinetten in Bb und A (2. auch Eb-Klarinette, 3. auch Bassklarinette in Bb)
3 Fagotte (3. auch Kontrafagott)

4 Hörner in F (1, 2 hoch; 3, 4 tief; alle 4 benötigen Stopfdämpfer)
3 Trompeten in Bb (1. optional für manche Stellen Piccolo-Trompete; alle 3 Tp. benötigen straight mute, whawha mute, harmon mute)
2 Posaunen 
Bassposaune (alle 3 Pos. benötigen straight mute, whawha mute, harmon mute, Übedämpfer)
Tuba (benötigt Dämpfer)

4 Pauken 
3 Percussionisten 
Celesta 
Harfe 

Streichorchester (14/12/10/8/6) 

Links und Downloads

Video Wir sind Erde - Orchester des Wandels (Staatskapelle Berlin)

Gedanken zum „weltlichen Oratorium“
Wir sind Erde

Wie klingt Umweltkatastrophe und Klimaschutz?
Gibt es einen Klang für Menschenrechte, Verantwortung oder Willensfreiheit?
Obwohl solch abstrakte Begriffe in sich erst mal keinen Klang haben, ist es mir seit langem ein Anliegen diese brennenden Fragen unserer Zeit mit Musik zur Sprache zu bringen und ein großes Werk über unseren Umgang mit der Erde und der Natur zu komponieren.
Die Stiftung kulturelle Erneuerung beauftragte Markus Vogt und mich, auf der Grundlage der Umweltenzyklika „Laudato si’“ von Papst Franziskus ein Oratorium zu komponieren. Unser besonderes Anliegen war, die vielschichtigen Sichtweisen von Gläubigen und Atheisten, Wissenschaftlern und Künstlern zusammen zu führen.

Das Stück zeigt deshalb die Weltsicht vier unterschiedlicher Charaktere, die man als Repräsentanten unserer Gesellschaft oder auch als Teilaspekte unserer eigenen Persönlichkeit sehen kann: Ein Dataist akzeptiert nur Rationalität und messbare Fakten, eine Humanistin kämpft für die hohen Ideale Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Verantwortung, eine Theistin/Künstlerin ist die spirituell kreative Visionärin und ein Skeptizist tritt als Fragender und großer Zweifler auf.

Ich danke ganz herzlich vor allem Markus Vogt für die vielen inspirierenden Gespräche, sowie Juliane Hendes, Felicitas Magdalena Pfaus, Matthias Fuchs, und meiner Mutter Elisabeth Mayrhofer für deren unermüdliche Mithilfe aus dieser Idee Wirklichkeit werden zu lassen.

1.Satz „Der Schrei der Schöpfung“
Die bohrende Sinnfrage des Skeptizisten hallt als ein sich vervielfältigendes Echo des Chores nach und wird zu einer Art „kosmischen Uratem“, der das Orchester durchfließt und allmählich zum Klang kondensiert.
Das zentrale musikalische Motiv ist ein Baustein von elementarer Einfachheit. Ein einzelner Ton beginnt sich langsam zu spalten wie in einer biologischen Zellteilung: gleich dem in der Natur so tief verankerten Streben nach Wachstum bewegt sich eine Melodielinie nach oben, während sie einen gespiegelten Klangschatten nach unten hinterlässt. Aus einem Ton werden zwei.

Jeder Sänger ist zu Beginn ein winziger musikalischer Tropfen, auf dem „heißen Stein“:  kaum wahrnehmbar, einzeln, scheinbar unbedeutend. Und doch steuert jedes Individuum seinen Anteil zu einem großen sich anreichernden Klanggebilde bei, eröffnet verschiedene Themenbereiche, setzt eine Entwicklung in Gang, die sich spannungsgeladen zu flirrender Hitze steigert, einen Schmelzvorgang auslöst, die einzelnen Tropfen zu riesigen Sturzbächen formiert.
Dabei zeigt sich immer mehr die ambivalente Rolle des Menschen: Die scheinbar unbedeutend harmlosen Einzeltropfen erweisen sich in der Masse als gefährlich. Tropfen Öl auf dem Wasser, Tropfen Gift in unserer Umwelt, die vielen Tropfen, die den Untergang für die ganze Spezies Mensch bedeuten. Auch unser individuelles zögerliches Abwarten „Wir sind nur ein vergänglicher Tropfen Zeit“ hat Anteil an der sich beschleunigenden Katastrophe.
Aus der kaum wahrnehmbaren Spaltbewegung vom Anfang des Satzes entwickelt sich durch die vielfache Überlagerung dieses aufsteigenden Mikro-Motivs eine unendliche Modulation, die immer zum nächsten Akkord strebt, aber niemals irgendwo ankommt. Jeder von uns ist wie ein kleiner Tropfen Treibstoff im Motor des entfesselten Beschleunigungsprozesses, der die Musik in einem ungebremstes Accelerando mit schier endlosen aufwärts strebenden Läufen antreibt. Aber nichts davon erreicht einen Zielpunkt, die Musik und wir alle sind gefangen im rasenden Stillstand.

 

2. Satz „Die menschliche Wurzel der Krise“
Voll Sorge blickt der Skeptizist auf die Masse der in sich gefangenen Menschen und stellt die Frage, ob es überhaupt einen Ausweg aus der Katastrophe gibt.
Die Antworten könnten unterschiedlicher kaum sein:

Ein „Dataist“ (Tenor), fixiert auf das rein faktisch Messbare tritt auf mit einer neutralisierten Musik, die fast verspielt in einem Art musikalischen Versuchslabor einzelne Töne als Morsezeichen oder elektronische Signale zu mathematischen Beschleunigungsprozessen oder symmetrischen Spiegelungen formt. Für ihn zählt nur das pure Wissen und Verstehen ohne Bewertung von gut und böse. Er präsentiert distanziert, fast als wäre er selbst eine Computerstimme, seinen Lösungsvorschlag: Die Natur nach unserem Verständnis zu ändern und anzupassen. Was zunächst plausibel erscheint, entpuppt sich als gefährliches Spiel mit der Macht. Er ist überzeugt, dass der Versuch alle Parameter zu bestimmen, durch technische Innovation und Kontrolle der Einzelteile alles lösen zu können, die „absolute Beherrschung des Raums“ bewirken kann. Fast überschwänglich auftrumpfend wird sein Hauptmotiv präsentiert: „Scientia potestas est“ — „Wissen ist Macht“.

Im größtmöglichen Gegensatz dazu steht die „Theistin“ (Alt). Sie tritt als ruhige mystische Person auf, deren Musik ganz auf das innerliche und verborgene, zarte Fühlen und Wahrnehmen ausgerichtet ist. In einem sehr intimen Duo zwischen Bassflöte und ihrer Stimme kann man erahnen, was dem Dataisten fehlt: das Empfinden von unerklärlicher natürlicher Schönheit und die Suche nach dem Metaphysischen. Eingebettet in sanfte Tierlaute, als befände man sich in einem reichen Kosmos unberührter Natur, singt sie davon, dass in jedem Lebewesen oder Objekt ein Wesen steckt, das nicht allein durch materialistische Beschreibung erfasst werden kann und dem ein sensibler einfühlsamer Umgang gebührt. Über sanft zuversichtlich strömende „Erdenharmonien“ singt sie den zentralen Satz „Wir sind Erde“ in einem einfachen kirchentonal anmutenden Motiv (a-g-a), das sich später zu ihrem Hauptmotto verwandelt: „Laudato si’ mit Signore“. Voll Hoffnung, dass wir durch Besinnung auf inneren Frieden Erlösung finden, preist sie voll Demut Gott als den Herrn der Schöpfung.

Der Humanistin (Sopran) widerstrebt dieses blinde Vertrauen, sowohl beim Datisten auf Technik und Wissen, als auch bei der Theistin auf die Hoffnung und Erlösung durch eine höhere Instanz. Mit einer stürmischen, zuweilen rastlosen Musik lenkt sie den Fokus auf unsere Eigenverantwortung. Voll aktivistischer Energie proklamiert sie die hohen Ideale der Aufklärung in der Überzeugung, dass alle Probleme mit moralischem Verantwortungsbewusstsein gemeinsam gelöst werden müssen. Mit einer überbordend sprunghaften Musik entwickelt sie voll Leidenschaft ihr großes Credo, die „goldene Regel“ der Aufklärung: „Quod tibi, hoc alteri“, verhalte dich so, wie du es von anderen erwartest. So wie ihr Hauptmotiv, ein Tritonus Sprung, die Oktave aber nur scheinbar ganz „gerecht“ teilt, übersieht sie im Werben für ihr Ideal, dass die Realität komplexer ist und oberflächliche Gerechtigkeit nicht jedem wirklich Recht verschaffen kann. Werden die realen Frequenzen betrachtet, so ist der Tritonus als Intervall nicht die exakte Mitte zwischen zwei Oktav-Tönen, also nicht „gerecht“, sondern er bringt klanglich sogar eine spezielle innere Leere oder Spannung mit sich.

Diese scheinbar so einfache und klare Lösung, die uns die Humanistin präsentieren will, ist also nicht von Dauer: Mit jeder unbeantworteten Frage des Skeptizisten (Bass) lässt dieser den soeben noch ideal strahlenden Akkord Ton für Ton zerfallen. Leise beginnend zerfrisst ihn von innen heraus die Skepsis, ob Wahrheiten Bestand haben, ob es irgend eine sichere Aussage gibt oder ob nicht alles einfach sinnlos ist: „Omne nihil“ – „Alles ist nichts“.
Sein Motiv ist eine stetig voranschreitende Basslinie, eine Art Passacaglia, die wie eine unnachgiebig bohrende Frage alles zersetzt und sich mit jedem Durchgang des Motivs unmerklich einen Ton weiter in die Tiefe schraubt bis zur großen düsteren Ratlosigkeit.

Am Ende dieses Satzes kreisen Chor und Solisten in der „Litanei des Vergessens“ musikalisch umeinander im Fragen, ob und was wir bewirken können. Jeder der vier Protagonisten manifestiert noch einmal seine Weltsicht: Der Dataist hält alles für eine Ansammlung physikalischer Prozesse und als deren Folge auch unsere Entscheidungen und Taten. Die Theistin verweist auf die Hoffnung und Transzendenz. Dagegen will die Humanistin in einem furiosen Aufbäumen die beiden anderen aufrütteln und appelliert, das Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Doch der Skeptizist bezweifelt alle einfachen Lösungswege angesichts einer komplexen Realität. In dieser festgefahrenen Situation bringt der Chor die ambivalente Erkenntnis auf den Punkt: „Wir vergessen: Wir sind Erde“

3. Satz: „Die Schönheit der Schöpfung“

Wie eine aufplatzende Knospe beginnt dieser Satz mit einer vital quirligen Musik, als befände man sich inmitten eines reichen Kosmos von Flora und Fauna. Die Menschen stürzen sich als Ausweg aus den unlösbar scheinenden Fragen in einen hoffnungsvollen Lobpreis der Natur und besingen im ältesten Zeugnis italienischer Literatur, dem Sonnengesang „Laudato si’ mi Signore“ die Schönheit der Natur in allen ihren Facetten.
Doch genau in dem Moment, in dem die Menschen beginnen die „Schwester Mutter Erde“ zu preisen („die uns erhält und lenkt“) schleicht sich aus diesen Naturklängen herauswachsend im Hintergrund fast unmerklich wieder das Beschleunigungsmotiv ein. Während die Theistin betont, wie gut alles in der Schöpfung sei, stellen die anderen drei diese Weisheit in Frage. Aus einem anfangs argumentierenden Streitgespräch wird mehr und mehr ein aneinander Vorbeireden, bei dem sich jeder vehement auf seine Sicht versteift.
Je lauter und unüberhörbar sich die nahende Katastrophe in der Musik abzeichnet, umso mehr versuchen die Protagonisten sie mit dem Beharren auf ihrer jeweiligen Denkrichtung zu übertönen. Sie verzahnen sich in einem Fugato ihrer drei Kernsätze „Laudato si’“, „Quod tibi hoc alteri“ und „Scientia potestas est“. Der Skeptizist versucht in einem verzweifelten Aufschrei vergeblich die Menschen wachzurütteln, doch die sind festgefahren in ihren wirkungslosen Glaubenssätzen. Der rasende Stillstand überrollt sie. Plötzlich bricht alles ab. Es folgen drei große Stille-Episoden.

In einer „rasenden Stille“ brüllen Chor und Orchester nur noch lautlos in einer absurden Pantomime. Der Skeptizist stellt all unsere Worte und unser menschliches Treiben in Frage, da doch alles wirkungslos verhallt. Damit löst er die zweite, düster depressive Stille aus in die der Chor - angesichts der unauflösbaren Spannungen und Gegensätze in uns Menschen - die existenzielle Frage nach unserem Sein stellt: Wer sind wir?
Nun folgt die dritte und erstmals echte große „Musik der Stille“
Eingerahmt von wenigen minimalistischen Gesten der Piccoloflöte spüren wir nun zum ersten Mal den leeren Raum, in dem es keine Antwortgeber von außen gibt, sondern der Fokus ausschließlich auf dem individuellen „Ich“ liegt mit seinen Gedanken, Fragen und Antworten.
Eine ganz persönliche Stille und Umkehr.

 

 


4. Satz: „Ein neuer Bund zwischen Mensch und Erde“

Die Musik als wortlose Sprache eröffnet einen sanft schwebenden hellen Raum. Nach der Erfahrung der scheinbar wirkungslosen Worte und ihres blinden Argumentierens finden die Sänger erst allmählich zur Sprache zurück. Ähnlich wie zu Beginn des Stückes schälen sich aus dem Rauschen des „Uratems“ wieder langsam Worte: „Wir sind - so sind wir“. In einem zusammengesetzten Dialog zwischen Chor und Solisten werden die scheinbaren Gegensätze zusammengebracht ohne naiv harmonisch vereinen zu wollen, was eben nicht eins ist.
Die vier Protagonisten singen nun nicht mehr jeder für sich, sondern übergeben sich die Phrasen und Melodien, anerkennend, dass jeder nur einen Teil der Wahrheit in sich trägt und angewiesen ist auf das Zusammenwirken mit den anderen Sichtweisen.
Die Frage nach Hoffnung stellt sich nun am Schluss des Stückes mehr denn je, nachdem die vielen Lösungsversuche keinen Erfolg hatten. So wie das Stück mit dem Naturbild des Tropfens begann, so endet es damit, aber in veränderter Form: Die Hoffnung, auf die wir uns stützen, ist nur ein trockenes Samenkorn. Es braucht uns Menschentropfen, um zum Leben erweckt zu werden.

Am Ende steht das versöhnliche Symbol des Regenbogens „als Tropfenprisma leuchtet unser Sein“. Im übertragenen Sinn macht er das ganze Spektrum unserer vielfältigen menschlichen „Tropfen“ sichtbar: Nur durch das gemeinsame Zusammenwirken erwächst ein zuversichtlicher Schlusschoral, in dem die vorherigen Gegensätze zusammenfinden. Das musikalische Wachstumsmotiv der nach oben strebenden und sich teilenden Töne ist nach wie vor präsent, wird aber nun gemeinsam mit fast allen anderen Hauptmotiven in einem musikalischen Netzwerk zusammengeführt, in dem jeder Teil seinen Raum hat. Die Gegensätze werden nicht negiert, sie bleiben präsent, formulieren jedoch nun die visionäre Sicht eines jeden Protagonisten zusammen mit dem kritischen Blick des Skeptizisten.
Der letzte Satz mahnt uns, mit der Kooperation der „neuen Wahrheiten“ nicht in die Falle alter Glaubenssätze zu geraten und bezieht sich auf eine zentrale Maxime der Enzyklika: „Wichtiger als die Idee, ist die Wirklichkeit.“

Kann Kunst Sinn stiften und Sinneswandel bewirken?
Nur dann, wenn wir die vielen Stimmen in unserer Gesellschaft oder auch die vielen Stimmen im Kopf eines jeden einzelnen zusammenführen und daraus Bereitschaft zu konkreter Veränderung entsteht.

Mit dem mahnenden Symbol der „tropfenden Zeit“, mit dem das Stück begonnen hat, entlässt es uns, mit all der Verantwortung aber auch der Hoffnung, die wir nirgendwo anders finden als in uns selbst.

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